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Kindliche Individualität fördern

Der französische Philospoph Michael de Montaigne stellte bereits im 16. Jahrhundert fest, dass jeder Mensch unterschiedlich ist und dementsprechend unterschiedlich behandelt werden muss. Diese Unterschiedlichkeit bleibt in der Erziehung und in der Schule oft unberücksichtigt, was dazu führt, dass Potentiale verkümmern.

Jeder Mensch ist ganz individuell, das zeigt sich schon bei sehr kleinen Kindern. Jedes Kind hat sein ganz eigenes Aussehen und seine spezifische Persönlichkeit, auch die körperliche und geistige Entwicklung verläuft unterschiedlich. Der Erziehungsexperte Remo H. Largo geht davon aus, dass das Entwicklungsalter in einer Klasse von Erstklässlern um mindestens drei Jahre variiert. Diese Tendenz nimmt mit steigendem Alter sogar noch zu.

 

Kinder wollen gesehen werden – Vorsicht vor Normvorstellungen

Ein gutes Beispiel für die Probleme, die aus einer falsch verstandenen Einhaltung von Normen entstehen, sind kindliche Schlafstörungen. Viele Kinder haben Probleme mit dem Ein- und Durchschlafen. Die Gründe sind vielfältig, liegen häufig aber auch darin begründet, dass die Eltern sich an die Richtwerte für das Schlafbedürfnis von Kindern halten. Muss ein Kind mehr im Bett liegen als es seiner natürlichen Veranlagung entspricht, schläft es logischerweise entweder abends nicht ein, wacht nachts auf oder ist schon sehr früh am Morgen wach. Weitere Beispiele sind das Ess- oder Spielverhalten. Zwar kann man schwerlich darüber diskutieren, welche Nahrungsmittel gesund sind und welche nicht, allerdings haben Kinder ein gutes Gespür für das, was ihnen guttut. Wird dieses Gefühl durch die Vorstellungen der Eltern immer wieder übergangen, verlernt das Kind, auf seinen Instinkt zu hören und die Lebensmittel zu wählen, die es braucht und vor allem auch verträgt. Auch die Vorlieben für Spiele sind individuell. Während lebhafte Kinder Bewegungs- und Tobespiele bevorzugen, spielen etwas ruhigere Kinder gerne auch ruhige Spiele, bei denen es mehr auf Geschick und Strategie als auf Kraft ankommt. Immer dann, wenn Eltern die Individualität ihres Kindes übergehen und versuchen, es nach den eigenen Vorstellungen zu formen und zu erziehen, gibt es zum einen Probleme mit dem Miteinander, weil das Kind sich dagegen wehrt, zum anderen verliert das Kind dauerhaft das Gefühl für die eigenen Bedürfnisse.

Einheitsbrei in der Schule

Das Schulsystem hat in den letzten Jahren und vor allem seit der ersten PISA-Studie Einiges dazugelernt. Trotz allem berücksichtigt der Unterricht in der Schule oft nicht die Besonder- und Eigenheiten der einzelnen Schüler. Lerntempo, Konzentrationsfähigkeit, Entwicklungsalter – all dies sind Aspekte, die maßgeblich beeinflussen, wie gut ein Kind dem Unterrichtsstoff folgen kann. Der Lehrplan im deutschen Schulsystem orientiert sich in der Regel an Durchschnittsleistungen. Kinder, die diesem Durchschnitt entsprechend, können dem Unterricht gut folgen, der Stoff ist für sie altersgerecht aufbereitet. Alle Kinder, die unter oder über dem Durchschnitt liegen, bleiben dabei jedoch weitgehend unberücksichtigt. Über- oder Unterforderung führen dazu, dass die Motivation zum Lernen sinkt, die Kinder sind frustriert und verlieren die Lust an der Schule. Die Folge sind schlechte Leistungen und eine ungenügende Entwicklung der jeweiligen Lernkompetenzen – die Erfolgserlebnisse fehlen.

Förderung für Kinder „nach Maß“

In der Leistungsgesellschaft, in der wir leben, ist „Funktionieren“ und Anpassung hoch angesehen. Eltern wollen, dass ihr Kind nicht aus der Reihe tanzt, nicht weniger kann als Gleichaltrige. Dies hat dazu geführt, dass alles, was auch nur im geringsten den Anschein eines Defizites hat, gefördert, therapiert und beseitigt werden soll. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass es auch Teilleistungsschwächen gibt, die sich nicht gänzlich beheben lassen. Legasthenie oder Rechenschwächen bleiben meist ein Leben lang bestehen und können durch gezielte Förderung lediglich abgemildert werden. Erwarten Eltern nun, dass die Schwäche beseitigt werden soll, entsteht ein Leistungsdruck beim Kind, der schlimmstenfalls traumatisch wirken und das vorhandene Defizit sogar noch verstärken kann. Wichtiger als das Ausmerzen von individuellen Schwächen ist es, das Kind zu stärken und zu unterstützen, sein Selbstbewusstsein zu entwickeln und ihm Strategien an die Hand zu geben, die ihm helfen, mit seinen Defiziten zu leben und sie zu akzeptieren.

An die Schulen besteht die Anforderung, die individuellen Stärken und Schwächen der Schüler anzuerkennen und gezielten Unterricht anzubieten. Im häuslichen Umfeld sollten sich Eltern weniger an Entwicklungs- und Erziehungsnormen als an den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Kindes orientieren.

 

Zum Weiterlesen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Individualit%C3%A4t
http://www.urbia.de/magazin/familienleben/erziehung/foerder-wut-und-foerder-wahn